© 2010 Ralf Hanselle

DAS ENDE DER BELIEBIGKEIT
von: RALF HANSELLE

Fotografie kann Kunst sein - muss sie aber nicht. Ein Plädoyer für das Aushalten von Differenzen

Alles hat seine Ordnung: Systeme, Diskurse, selbst belanglose Dinge. Überall scheint es Oben und Unten zu geben. Allerorten findet man Erhabenes wie Triviales. In Deutschland hat sogar die Fotografie eine Ordnung. Eine, die es weltweit kein zweites Mal gibt. Seit über vierzig Jahren wird hier der Bilderberg systematisch gerastert. Mögen sich die Geister scheiden an den Grenzen von künstlerischer und angewandter Fotografie - an Fragen von Comercial und Fine-Art -;. die Deutschen scheiden sich am Steuerrecht. Bis ins Jahr 1969 ließ das keine Fragen offen: Nahezu jeder in Deutschland tätige Fotograf war von Haus aus Gewerbetreibender. Für den deutschen Steuerbeamten war die Sache klar: Fotografie zerfiel für ihn in zwei Teile: In Handwerk und in hohe Kunst. Das eine bedeutete die Pflicht zur Gewerbesteuer, das andere verhieß fiskale Freiheit. Da es fotografische Kunst in Deutschland in jenen Jahren aber nur selten gab, wurden die meisten Fotografen ohnehin dem Handwerk zugeschlagen - ganz egal, ob sie Hochzeitsbilder oder Modefotografien machten; egal ob sie große Werber oder kleine Konfirmanden-Knipser waren.
Walter E. Lautenbacher war das zuviel. Als einer der führenden deutschen Modefotografen wollte er raus aus diesem “Handwerksding”. 1967 strebte er beim Finanzgericht Stuttgart einen folgenreichen Rechtsstreit an. Kommerzielle Fotografen sollten vor dem Fiskus das Recht erhalten, im Zweifel auch als Künstler anerkannt zu werden. Die Sache zog sich lange hin. In zweiter Instanz schließlich sollte Lautenbacher Recht bekommen. Wenn der Arbeit eines Fotografen nachweislich ein künstlerisches Element inhärent sei, so das damalige Urteil des Bundesfinanzhofs, dann könnten Fotografen fortan auch als Freiberufler tätig sein.
Neben Handwerkern und Lichtkünstlern gab es jetzt also noch etwas Drittes. Etwas, was bis dato keinen Namen hatte. Fortan wurde es zu einem deutschen Spezifikum: Fotodesign - eine Disziplin, die weder Fleisch noch Fisch war. Eine, die zwischen allen Stühlen saß. Sie machte es sicherlich einfacher, in Deutschland eine Steuererklärung auszufüllen. Schwieriger aber wurde es, eine Antwort auf die vielleicht alles entscheidende Frage der technischen Bilder zu finden. Eine Frage, die die Welt fast schon seit den Tagen Nicéphore Niépces in Atem hält: Wann eigentlich ist Fotografie Kunst? Was hat sie gemein mit klassischer Malerei? Und wie genau hält es das noch immer recht neue Medium mit den alten Musen?
Eine Lösung für derlei Fragen ist nicht einfach. In der Vergangenheit waren es daher oft die Fakten, die wichtige Entscheidungen brachten. 1972 und ‘75 etwa, als in Köln, Hannover und Hamburg die ersten deutschen Fotogalerien eröffneten. Oder 1977: Mit der documenta 6 wurde damals erstmals Fotografie in das Programm der großen “Weltschau” für zeitgenössische Kunst zugelassen - darunter Arbeiten von Robert Häusser sowie von Bernd und Hilla Becher. Ein letzter Schritt erfolgte zwei Jahre später. Anlässlich des fünfzigsten Jubiläums der großen Werkbundausstellung Film und Foto aus dem Jahr 1929 erinnerte man sich in Deutschland wieder vermehrt daran, dass einst schon das sogenannte Neue Sehen die Tore zur Kunst weit aufgestoßen hatte. Spätestens jetzt begann es der Kritik zu dämmern: Technische Reproduzierbarkeit musste für die Bemessung des Kunstgrades einer Arbeit nicht mehr per se etwas Abträgliches sein. Im Gegenteil: Kunst und Fotografie, sie schienen eng miteinander in Beziehung zu stehen. Schon Roland Barthes meinte schließlich einst, das Kunst die “väterliche Referenz” aller Fotografie sei.
Wo genau indes aber die Verwandtschaftslinie verläuft, das ist bis heute strittig. Fast scheint es, als wären biologische Vaterschaften leichter zu klären als ästhetische. Manch einer hält es daher längst mit einer salomonischen Lösung: “Kunst ist Fotografie immer dann, wenn es Menschen gibt, die sie für Kunst halten”, so etwa Jacques Schumacher, Gründungs- und Ehrenmitglied des BFF. Und: “Kunst hat etwas mit kollektivem Gruppensehen zu tun”. Denn letztlich, so die Ansicht des erfahrenen Hamburger Werbefotografen, entschieden etablierte Schulen und Netzwerke darüber, welche Arbeiten im Museum und welche “nur” in Zeitschriften oder auf Werbeplakaten landeten.
Wenn Schumacher Recht hätte, dann ginge es bei allen Differenzierungsversuchen am Ende gar nicht so sehr um konzeptionelle oder ästhetische Fragen. Vielmehr herrschte längst Beliebigkeit - ein “Anything Goes”, an welchem die Erfindung des “Fotodesign” sicherlich einen Beitrag geleistet hätte. Indes: Die Kunstfrage ist keine deutsche Frage. Uneinigkeit herrscht auch in Ländern, in denen es das Wörtchen “Fotodesign” so gar nicht gibt. Jean Claude Lemagny etwa, einstiger Konservator für Fotografie an der Pariser Bibliothèque Nationale, stand einst vor ganz ähnlichen Problemen. Und auch er entschied sich letztlich zu der Meinung, dass man die Fragen um Kunst und Fotografie offen halten müsse. In seinem viel beachtetem Essay L’ombre et le temps schrieb Lemagny Anfang der 80er Jahre. “Lassen wir die Wunde bluten, mit Schmerzen und mit Zweifeln. Das ist die einzige fruchtbare Quelle”. Eine Quelle, die Lemagny bereits zu einer Zeit angezapft hatte, in der Fotografie als künstlerisches Medium noch erhebliche Legitimationsprobleme hatte.
Seither aber ist viel geschehen. Heute fließen die Sammlungen der großen Museen über mit Arbeiten auf Fotopapier. Und nicht immer handelt es sich dabei um so eindeutig künstlerische Positionen, wie sie seit langem etwa von Fotografen wie Cindy Sherman, Jeff Wall oder eben Robert Häusser vertreten werden. Heute erhalten auch Bildjournalisten oder Architekturfotografen ihre musealen Retrospektiven. Heute wird gesammelt, was große Namen hat. Egal scheint es zunächst, ob es sich um die Arbeiten von Minimalisten oder Magnum-Fotografen handelt, ob von Meistern der Modebilder oder von avantgardistischen Montagekünstlern. Einst meinte schließlich schon Gisèle Freund, dass die Fotografie an der Museumswand “die Aura des Kunstwerks” wiedererhalte, die sie zuvor verloren hätte. Wenn Freund  Recht gehabt hätte, dann läge im Umkehrschluss ein nur allzu verständlicher Reiz: In der logischen Rückwertsrolle ihrer Äußerung nämlich hätte alles künstlerische Aura, vorausgesetzt nur, es hinge auch an der Wand eines Whitecubes.
Ganz soweit ist es indes noch nicht. Zwar ist die Frage nach dem ideell Wertvollen immer schwieriger zu beantworten geworden, im Problem der ökonomischen Werthaltigkeit aber hat sie ihren Deszendenten gefunden. Denn der augenblickliche Marktwert, er scheint zunehmend zum eigentlichen Richter über die schöpferische Qualität von Fotografie geworden zu sein. Was Kunst ist, das bestimmen immer weniger Kunsthistoriker, Kuratoren oder Kritiker. Über Kunst entscheidet die “invisible hand”. Und die kennt in der Regel einen gravierenden Unterschied zwischen Fotokunst und Fotodesign. Das Problem liegt dabei in der “Vermassung”. Denn während die Mehrheit der zeitgenössischen Fotokünstler ihre Werke nur in kleinen Auflagen von zwei bis zwanzig Stück auf den Markt bringt, liebt es der angewandte Fotograf oft großspuriger. Bei Magnum-Photos etwa vermarktet man über eine sogenannte Kulturabteilung längst nicht mehr nur Vintages in kleiner Auflage. Mit signierten Modern-Prints in unbegrenzten Mengen versucht man eine gestiegene Nachfrage zu bändigen.
Den letzten Schritt im hocheditierten Bildsegment aber sind die sogenannten Editionsgalerien gegangen. Das bekannteste Beispiel: Lumas. Der Berliner Bild-Discounter mit weltweit elf Filialen in vier Ländern hat sich seit 2004 einen Namen mit massenkompatibler Ware gemacht. Indem die Editionsgalerie die Auflagen zuweilen auf bis zu 150 Abzüge je Bild gesteigert hat, ist laut Marktlogik der Einstieg in einen ikonografischen Niedrigpreissektor gelungen. Falsch ist das nicht. Indes: Andersherum würde auch ein Schuh daraus: Indem Editionsgalerien nämlich zunehmend dekoratives Bilddesign anbieten, ist es ihnen überhaupt erst möglich geworden, die einzelnen Auflagen in solch unübliche Höhen zu schrauben. Kein etablierter Fotokünstler nämlich wäre wirklich dazu bereit, sich freiwillig in die ästhetische Armutsspirale zu begeben. Die aber hat in den sogenannten Editionsgalerien längst zu drehen begonnen. Es ist kaum noch zu übersehen: Die meisten der hier präsentierten Arbeiten sind schick und schmückend, in den seltensten Fällen aber verfolgen sie Ziele außerhalb ihres je eigenen Bilderrahmens.
Das aber, es wäre das Mindeste, was man auch heute von Kunst noch erwarten dürfte. Kunst sollte originär sein. Sie sollte nicht von Zuruf und nicht von gezielter Geschmackssimulation leben. Kunst, sie sollte zeigen, warum die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen - selbst dann nicht, wenn man sie gestochen scharf durch das Objektiv einer Kamera sieht. Die Kreation eines Looks, sie sollte der Kunst im Idealfall ebenso fremd sein, wie marktkompatibles Verhalten. Denn Kunst, so hat es schon der Königsberger Philosoph Immanuel Kant formuliert, ist “ohne Interesse”. Sicherlich: Vieles mag sich seit den Avantgarden an dieser knöchernen Definition gewandelt haben. Vieles mag sich hybridisiert haben, vieles mag ins Schwimmen geraten sein - nicht zuletzt die starren Grenzen zwischen Kunst, Design und Fotografie. Weggeschwommen indes sind sie noch lange nicht. Zwar mag man sich auf allen Feldern zu gleichen Teilen fotografischer Techniken bedienen - bei der Kunst aber sollte das Resultat niemals nur Selbstzweck sein. Immer sollte es bei ihr auch um die ästhetische Artikulation nichtfotografischer Interessen gehen. Der Fototheoretiker Joachim Schmid hat es vor Jahren bereits einmal auf den Punkt gebracht: “Während die künstlerische Fotografie bei ihren Höhenflügen um eine Minimierung ihres Gebrauchswerts bemüht ist und dieses Ziel doch nie erreicht, steht dieser beim alltäglichen Normalfoto im Vordergrund”.

Vielleicht wäre es also an der Zeit, noch einmal neu um die Kunst zu streiten. Fotografie kann Kunst sein - sie muss es aber nicht. Man mag sie in große Rahmen hängen und man kann sie in namhaften Museen präsentieren: Man kann für ihre Herstellung immense Steuern zahlen, und auch ihr Erwerb kann teuer erstanden sein. Mit der Kunstfrage hat das alles noch nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie scheint heute mehr denn je offen zu sein. Wir können sie aushalten. Wir können aber auch neu über sie streiten lernen. Vielleicht wäre Letzteres der bessere Weg - im Interesse der Kunst und im Interesse der sich stets erneuernden Fotografie.
erschienen in: BFF Jahrbuch 2010




Weblinks

    * Homepage des BFF
    * Homepage von Jacques Schumacher

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